Haben Sie schon einmal Geld verliehen?
Ganz sicher; zumindest kleinere Beträge und wahrscheinlich innerhalb der Familie oder im engsten Freundeskreis.
Aber darüber hinaus?
Das Risiko, sein Geld nicht oder nur nach vielen quälenden Mahnungen wiederzusehen, ist bei verschiedenen Schuldnern unterschiedlich hoch und eine Einstufung bzw. Benotung von deren Vertrauens- und Kreditwürdigkeit würde die Entscheidung von Anfang an erleichtern und eine Vergabe an unzuverlässige Kandidaten ausschließen.
Auf den Finanzmärkten gibt es deshalb, wie in der Schule, ein Benotungssystem (Rating), das die Spreu vom Weizen trennt und klar macht, dass man Schuldnern mit guten Noten (AAA-Rating) besser vertrauen und mehr Geld zu besseren Bedingungen (= niedrigeren Zinsen) verleihen kann als Schuldnern mit schlechten Noten (CCC-Rating) und letztere, wenn überhaupt, nur zu schlechten, d.h. hohen Zinsen ihren Kredit bekommen, wogegen die Musterkandidaten diesen zu wesentlich günstigeren, d.h. niedrigen Zinsen erhalten.
So erhalten die Musterländer mit Bestnote den Kredit zu nur 1% und die schlecht benoteten Klassenletzten müssen mindestens 6% Zins für ihre Ausleihungen bezahlen.
Wenn nun jedoch eine gut gemeinte Gleichmacherei, wie bei Einführung des Euro, unterschiedlich vertrauenswürdigen Kandidaten im Rahmen eines einheitlichen Währungsverbundes trotz unterschiedlicher Kreditwürdigkeit (oder bei Schülern: unterschiedlicher Leistungen) die gleiche Note für ihre Kreditwürdigkeit verleiht und sich daraufhin auch die mit Geld leichtsinniger umgehenden Schuldner plötzlich wie Onkel Dagobert Duck in einem (Mittel-) Meer aus billigem Geld baden können, weil sie überraschender Weise die gleichen niedrigen Zinsen (bzw. bei Schülern: Noten) wie die Musterschüler aus dem Norden erhalten, fließen Milliarden auch in wenig produktive, sinnlose oder überflüssige Verwendungszwecke, die weder die Zinsen, noch die Raten für die Rückzahlung je verdienen können.
Schuld daran sind jedoch nicht nur die leichtsinnigen und geldpolitisch „faulen“ Schuldner, sondern auch die Kreditgeber, in diesem Fall die Finanzmärkte, weil sie den unterschiedlichen Länderleistungen die gleiche Note und damit Kreditwürdigkeit gegeben und die dadurch allzu positiv Benoteten wohlgefällig und passiv gemacht sowie zum Leichtsinn verführt haben.
Hätten die unterschiedlich leistungsfähigen Schüler bzw. Staaten von vornherein keine gleichen, sondern unterschiedliche, d.h. gute und schlechte Noten erhalten, wäre den schlechten Schuldnern bzw. Schülern der Weg zu dem verhängnisvollen Schlendrian und Schuldenberg von vornherein verbaut gewesen, weil ihnen niemand soviel Geld so leicht(sinnig) anvertraut hätte.
Wie sich gezeigt hat, herrschen, wie unter Schülern, auch unter europäischen Staaten unterschiedliche, zumeist kulturell bedingte, Ansichten über den Wert von Arbeit und Freizeit, Fleiß und Wohlleben, Sparen und Konsumieren, die dazu führen, dass das Geld der Finanzmärkte – und dies sind keine monströsen Spekulanten oder Ungeheuer, sondern Sparer mit ihren Lebensversicherungen sowie Angestellte mit ihren später zu erwartenden Renten – bei den Einen besser als bei den Anderen aufgehoben ist.
Dies führt nun jedoch zu der nachdenklich machenden Konsequenz, dass die Europas Vielfalt ausmachenden mentalen und kulturellen Unterschiede weitgehend eingeebnet und damit aufgegeben werden müssen, wenn die aufgrund ihrer kulturellen Lebensweise materiell weniger erfolgreichen Länder in der „EU-Währungsschule“ ständig mit schlechten Noten und Nachsitzen bedacht werden, da damit zweifellos wertvolle kulturelle Einflüsse dem finanziellem Gemeinwohl geopfert werden (müssen), was bei einer eigenen Währung im Sinne einer Art von Selbstbenotung (Abwertung) nicht der Fall war bzw. wäre.
Insofern führt eine gemeinsame Währung – oder gleiche Note für Alle – zu einer zentral gelenkten Gleichschaltung, die unterschiedliche Profile unkenntlich macht und auf ein Einheitsniveau zwingt; europäische Einheit statt europäische Vielfalt.
Die Abschaffung der traditionellen spanischen Siesta als Sparmaßnahme zur Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivität und somit Erhöhung der Kreditwürdigkeit ist ein anschauliches Beispiel für die Opferung und Einebnung kultureller Errungenschaften auf dem Altar der europäischen Gleichmacherei im Rahmen einer einheitlichen Währung. Dabei wird der in südlichen Regionen traditionelle Mittagsschlaf fälschlicher Weise als Faulheit statt Mittel zur Leistungssteigerung und Kreativität verkannt.
Insofern stellt sich die Frage, ob und wem es wegen der Beibehaltung kultureller Unterschiede wert ist, leistungsmäßig schwächere Schüler unter Verlust eigener finanzieller Ressourcen (sprich: Renten) mitzuziehen, d.h. zu subventionieren, um dafür die unterschiedlichen Kulturen ungeschmälert zu erhalten oder jene in eine andere, eigene (Währungs-) Schule mit eigenem Benotungssystem unter Beibehaltung ihres authentischen „genetischen“ Lifestyles zu entlassen.
Würden Sie nicht auch einem Studierenden, der im 4. Semester bereits sein Basisstudium erfolgreich und vollständig abgeschlossen hat und nebenbei frühmorgens als Zeitungszusteller arbeitet sowie in den Semesterferien einen studiennahen Ferienjob hat, eher Geld leihen als einem lebenshungrigen Partygänger im 9. Semester? Letzterem würden Sie mit Finanzspritzen nicht nur keinen Gefallen tun, sondern seinen Schlendrian auf verhängnisvolle Weise zum für ihn selbstverständlich werdenden Lifestyle auswachsen lassen helfen und Ihren Kredit dort im Gegensatz zum Musterstudierenden wahrscheinlich abschreiben müssen.
Das Gleiche passiert bei Studierenden, die trotz mäßiger Leistung durch eine dazu unverhältnismäßig gute Note ein unzutreffendes Feedback ihres Arbeitsstils bekommen und, wie mit zu guten Bonitätsnoten (Ratings) verwöhnte Geldschuldner, dadurch keinen Anlass für eine Korrektur ihrer selbstgefälligen Passivität mit unzureichenden Anstrengungen sehen.
Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Professor Bernhard Kempen, kritisiert die an Hochschulen zu beobachtende „Noteninflation“ und beklagt die fehlende Aussagekraft von Noten: „In ganz vielen Fällen haben die Kollegen die Neigung, nur noch Bestnoten zu vergeben“ (Vitzthum, Thomas, In ganz vielen Fächern gibt es nur noch Bestnoten, in: Die Welt, 9.5.2016, vgl. auch Links zu Zeitschriften Forschung & Lehre sowie Wirtschaftswoche)
Wenn bekannt ist, dass in einem Fach nur Bewertungen im engen „guten“ Notensektor vergeben werden, wäre es geradezu unökonomisch, sich besonders anzustrengen, wenn die Bestnoten auch schon bei geringer Anstrengung zu erreichen sind und eine Leistungssteigerung keine Prämie mehr einbringt. Statt unnötige weitere Energie in solche „leichten“ Fächer fließen zu lassen, ist es nach den Gossenschen Ertragsgesetzen ökonomischer, jene überflüssige Restenergie in Fächer umzulenken, die zur Erreichung derselben guten Note einen höheren Aufwand erfordern.
Auch der Wissenschaftsrat beklagt die Tendenz zur Noteninflation, die in bestimmten Fächern dazu führt, dass 98% der Studierenden keine schlechteren als die beiden ersten Notenstufen „sehr gut“ oder „gut“ erhalten und auf die damit verbundene Absicht der Hochschulen, ihren Absolventen bildungsbiografische Vorteile auf Kosten der leistungsgerecht Bewerteten anderer Hochschulen zu verschaffen (vgl. Friedmann, J. Wissenschaftsrat beklagt zu gute Noten an Unis, SPIEGEL-online 9.11.2012 sowie Preuss, R. Zu gute Noten an deutschen Hochschulen, Süddeutsche Zeitung 10.11.12, S. 1). Prof. Peter Herde weist in einem Leserbrief auf ein Forschungsprogramm der Universität Dresden hin, in dem nachgewiesen worden sei, dass ein Professor in der Regel umso besser (von Studierenden) beurteilt werde, je leichter seine Anforderungen und je besser die von ihm erteilten Noten sind (vgl. F.A.Z. Nr. 98, 27.4.2013, S.35). Werden Kuschelnoten als Marketinginstrument von untereinander im Wettbewerb stehenden oder um ihre Existent kämpfenden (Wahl-) Fächer oder gar ganzen (Hoch)Schulen eingesetzt, wird der Studierende mit dem absehbaren demographischen Rückgang der Studienanfänger zum hofiertem Kunden, der – von Bestnoten umworben – seine Wahl nach dem günstigsten Angebot treffen kann.
Können Hochschulen der Versuchung widerstehen, ihr Ausbildungsniveau zu senken, wenn ihre finanzielle Ausstattung – wie geplant – von möglichst wenigen Studienabbrechern und möglichst vielen die Regelstudienzeit nicht überschreitende Absolventen abhängig gemacht wird? „Bei der Vergabe von Hochschulabschlüssen müssen allein objektive Leistungskriterien ausschlaggebend bleiben. Höchstquoten für Studienabbrecher sind korrumpierend und laufen auf eine Absenkung von Qualitätsstandards hinaus.“ (Deutscher Hochschulverband, Resolution des 65. DHV-Tages in Mainz, 24.3.2015)
Dass Noten wie Zinsen oder der Geldwert aufgrund ihrer Signalwirkung von (Schul-)Politikern gern zum Nachweis der eigenen Erfolgspolitik geschönt werden, um Kritikern keine Munition – z.B. in Form höherer Durchfallquoten oder schlechterer Notendurchschnitte – zu liefern, wird aus einem Insiderbericht eines Gymnasiasten über das nachträgliche „Montieren“ der Leistungsergebnisse an Gymnasien mit der umstrittenen verkürzten G8-Schuldauer (vgl. Freitag, Markus: Durchkommen, irgendwie; Süddeutsche Zeitung 20.2.2014, S.2) oder an dem sogar gerichtsmassig gewordenem Vorgehen eines Schuldirektors deutlich, der die Noten seines Abiturjahrgangs gegen den Willen der zuständigen Erst- und Zweitkorrektoren als selbsternannter Drittkorrektor zur Imagepflege seines renommierten Gymnasiums eigenmächtig geschönt hat und dafür wegen Falschbeurkundung im Amt zu einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt wurde und auch noch mit einem Disziplinarverfahren rechnen muss (vgl. Link zu Süddeutsche Zeitung, 24.6.2014, R15).
In den USA wurden acht Lehrer zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie Prüfungsbögen zu Gunsten der Schüler gefälscht haben, um durch die besseren Ergebnisse ihrer Schule ein höheres Ranking und sich selbst großzügige Leistungszulagen zu verschaffen, die bei einer Schulrätin während ihrer Amtszeit $ 500.000,- ausgemacht haben.
Wenn dann „im wirklichen Leben“ – schon im Bewerbungsgespräch – jedoch spätestens im Probejahr, die Notenhüllen fallen und die Gläubiger, wie bei den Krediten, substanzielle Leistung einfordern, offenbart sich manchem die aufgrund seiner Schein-Noten verfälschte Einordnung in eine zu hohe Leistungsklasse, der er, wie unzutreffend benotete Staaten in einer sie überfordernden Währungsklasse, nicht gewachsen ist und deshalb dort alsbald ein eher horizontaler denn vertikaler Karriereverlauf bevorsteht.
Wie viel besser wäre es gewesen, schon frühzeitig durch differenzierte, also gute, aber auch schlechte Noten, ein tatsächliches Leistungsbild erhalten zu haben und sich hätte entsprechend motivieren oder in eine andere Leistungsklasse, sprich Ausbildung, wechseln und dort der wahre Erste und nicht leistungsmäßig getarnter Mitläufer sein können.
Wie viele Menschen verfehlen wohl ein Leben lang ihre wahre Berufung, weil sie zu lange mit unzutreffend guten Noten über ihr tatsächliches Mittelmaß in dem entsprechendem Fach hinweggetäuscht und damit einer frühzeitigen und vor allem noch rechtzeitigen beruflichen Neuorientierung entzogen worden sind?
Insofern wirken schlechte Noten wie Katalysatoren, die schwache Studierende entweder zu besseren Leistungen motivieren oder Anlass für ein Umsatteln zu einem anderen Studiengang sind. 80.000 Studierende, rund ein Drittel aller Hochschüler, brechen jährlich in Deutschland trotz hoher Studienkosten ihren bisherigen Studiengang ab und wagen einen Neuanfang in einem anderen Fach (vgl. Liebe auf den zweiten Blick, F.A.Z. 6.10.2012, C4).
Auch dies ein Symptom für den gesellschaftlichen Nivellierungseifer nach Hochschulbildung um jeden Preis und für möglichst viele, unabhängig von Begabungen, Motivationen und Wissenschaftsgenen in der zukünftigen Akademikerschwemme.
Eine weichgespülte Notengebung diskriminiert immer die Besten (Dr. Häublein, E., Leserbrief,in Süddeutsche Zeitung 1.3.2014, S. 21), weshalb schlechte Noten für schlechte Schüler auch wichtig für die gut Benoteten sind, weil sie deren gute Leistung nicht nur im späteren Bewerbungswettlauf abgrenzend kenntlich machen, sondern auch eine persönliche Belohnung und Motivation darstellen, die ohne den Vergleich mit Schlechtbewertungen nicht möglich wären. Dies wird häufig von den Mittelmäßigen als unsolidarisch abgetan, die aber dennoch später für sich selbst nicht auf Bewertungsunterschiede zum Auffinden und zur Inanspruchnahme exzellenter Ärzte, Lehrer, Manager und Architekten verzichten wollen.
Würden Sie sich bei Versteifungsrisiko am Knie von einem Arzt operieren lassen, der bei leistungsgerechter Bewertung sein Examen nie bestanden hätte?
Aber wer würde schon die Anstrengungen auf sich nehmen wollen, ein exzellenter Arzt, Lehrer, Manager oder Architekt zu werden, wenn deren Leistungen später aufgrund einer Einheitsnote und womöglich auch eines Einheitsgehaltes nicht gewürdigt werden, weil die Gesellschaft lieber gleich als differenziert und erfolgreich ist?
Die ideologischen Großversuche der in der Gleichmacherei von Menschen gescheiterten kommunistischen Staaten – im Falle Deutschlands sogar 40 Jahre lang innerhalb desselben Volkes – glaubten an gleiche Einkünfte trotz unterschiedlicher Leistungen.
Der Ausgang ist bekannt.
P.S.
Dass die Aussagekraft von Abschlussnoten für die Feststellung der Studierfähigkeit aufgrund der Urteilskraft unterschiedlicher Lehrer über einen langen Zeitraum sowie verschiedener Prüfungsformen (mündlich, schriftlich, Referate, Multiple-Choice etc.) höher ist als die von Studierfähigkeitstests und selbst diese wiederum weit aufwändigere Auswahlgespräche übertreffen, zeigen viele Studien von Hell, Schuler, Trapmann und Weigand (2007/2008) auf der Datenbasis von über 40.000 Personen (vgl. Kersting, M. Abitur ohne Hochschulreife? – Die Not mit den Noten, in: (Hrsg.) Deutscher Hochschulverband, Forschung & Lehre, 3/15, Bonn, 2015, S. 200-202)